Viele Diskussionen drehen sich aktuell um der Frage herum, was angeblich gerade schief läuft in der deutschen Gesellschaft. Wenige hingegen versuchen eine Antwort darauf zu finden, was wir uns als Gesellschaft eigentlich wünschen – und welche Rolle dabei die NaturFreunde haben können. Darüber haben wir uns mit Dr. Talin Kalatas unterhalten.
NATURFREUNDIN: Wenn wir über ein Gesellschaftsbild unterhalten möchten, sprechen wir oft ganz schnell über die sogenannte „gesellschaftliche Spaltung“. Kannst Du bitte kurz erklären, was damit gemeint ist?
TALIN: Gute Frage. Diese Bezeichnung wird inzwischen so inflationär gebraucht, dass ich fast gar nicht mehr sagen kann was sie bedeuten soll. Insbesondere dann, wenn ich lese, was angeblich alles die Gesellschaft spalten soll: Die Benutzung von gendersensibler oder gerechter Sprache, das Hinweisen auf Privilegien und von Alltagsrassismus, das Recht auf Selbstbestimmung, oder sogar Wärmepumpen.
Mir stellen sich dabei zwei Fragen: Zum einen frage ich mich, wer diese Menschen sind, die sich davon abspalten lassen, wenn andere Menschen Teilhabe erleben wollen, ohne Angst leben wollen oder sich ein gutes Leben wünschen? Wer empfindet es als Spaltung, dass Menschen es nicht mehr okay finden, unseren Planeten zu zerstören?
NATURFREUNDIN: Hat diese Haltung nicht auch etwas damit zu tun, dass wir Menschen nach Harmonie streben und das suchen, was uns möglichst ähnlich ist?
TALIN: Unterschiedlichkeiten bringen uns alle voran, wenn wir uns als Gesellschaft auf einige, wenige Kompromisse verständigen: Privilegien gehören allen nicht einigen wenigen, Menschenfeind*innen sind nicht willkommen und den Planten ausbeuten ist vorbei. – wer sich davon noch abspalten lässt, will vielleicht auch einfach kein Teil der Gesellschaft sein.
NATURFREUNDIN: Was machen wir mit Meinungen und Haltungen, die sich nicht aus Kompromissen und gemeinsamer Abwägung durchsetzen, sondern schlicht, weil sie am lautesten oder beharrlichsten vorgebracht werden?
TALIN: Wir nehmen uns die Lauten generell zu sehr zu Herzen. Wichtiger ist doch, dafür zu sorgen, dass sich nicht eben Meinungen durchsetzen die am lautesten sind, sondern die, die für alle einen Kompromiss oder besser noch Vorteile für alle bringen? Erstmal glaube ich, dass hier patriarchale Strukturen zu Grunde liegen, die in vielen gesellschaftlichen Strukturen und Bewegungen so eingebacken sind, dass sie nicht einfach raus können. Und dass wir diese aufbrechen müssen. Intersektionaler Feminismus und Bildung sind hier die Stichworte. Damit meine ich, dass wir gesellschaftlich einen neuen Umgang miteinander erlernen müssen und gemeinsame Visionen dafür finden, was eine gerechtere Gesellschaft für alle bedeutet.
NATURFREUNDIN: Diese Idee wird häufig unter dem Begriff Solidarität zusammengefasst. Warum sollte Solidarität für uns eine Rolle spielen?
TALIN: Solidarität entsteht zum einem aus dem Gefühl von Verbundenheit auf Grund von gleichen Werten und Idealen, auf Grund von Familie und Freund*innenschaften, aber auch in Gruppen von sozialen Bewegungen wie der unseren, bei denen es ja auch immer um gleiche Wertekonstrukte geht.
Solidarität entsteht aber auch durch Teilhabe. Indem man Menschen Zugänge ermöglicht, zu demokratischen Strukturen, zu zivilgesellschaftlichen Prozessen, zu Bildung, bekommen sie eine Stimme und ihre Lebensrealitäten werden überhaupt wahrgenommen. Dazu gehört für mich auch, dass wir Privilegien reflektieren und gerecht mit allen teilen. Damit Solidarität füreinander oder für marginalisierte Gruppen entstehen kann, ist grundsätzlich erstmal Zuhören wichtig. Und es ist auch okay, nicht alles zu verstehen oder als deines anzunehmen. Man muss nicht alles nachvollziehen können, um solidarisch zu sein. Man muss nicht die gleiche Lebensrealität haben, um sich für andere einzusetzen und für sie da zu sein. Es reicht schon, ein bisschen weniger egoistisch sein und einzusehen, dass unsere Gesellschaft aus ganz vielen kleinen, wunderbaren Puzzleteilen bestehet. Jedes hat eine besondere Lebensrealität und davon keines weniger wert ist als andere.
NATURFREUNDIN: Vielleicht kommen wir mal auf die NaturFreunde zu sprechen. Unser Verband hat eine lange Tradition und eine enge Verbindung zur Arbeiter*innenschaft. Zugleich scheinen uns heutzutage immer weniger Menschen zu kennen. Wie hoch schätzt Du den gesellschaftlichen Wirkungsgrad der NaturFreunde ein?
TALIN: Ich glaube, dass der gesellschaftliche Wirkungsgrad der NF hoch sein kann. Das liegt vor allem daran, dass wir eigentlich alles mitbringen, was eine moderne und gerechte Gesellschaft an Werten bräuchte.
Es reicht aber nicht aus, diese Werte auf dem Papier zu vertreten. Wir müssen sie auch leben und Strukturen der Teilhabe und des sich-wohl-fühlens für alle schaffen, pflegen und verteidigen.
Der Wunsch, sich zu einer Gruppe dazu zu gehören, ist groß. Viele Menschen suchen nach Anschluss und viele schaffen es eben auch nicht, diesen zu finden. Ich denke, wenn wir es hinbekommen, dass wir das leben, was wir sein wollen, und andere dabei unterstützen, dann können wir alles schaffen.
NATURFREUNDIN: Manchmal erscheint es uns, als ob jede Form des Zusammenseins nur noch als Dienstleistung verstanden wird. Nach dem Prinzip: „Ich wünsche mir was – die Politik soll es gefälligst sofort umsetzen. Oder der Landesvorstand. Oder meine Ortsgruppe.“ Wie siehst Du das?
TALIN: Mir begegnet das natürlich auch, dass ich als reine Dienstleiterin wahrgenommen werde. Da bekomme ich Kritik, wenn ich, mit meinem Team und meinen unglaublichen Ehrenamtlichen und tollen Vorstand, versuche unseren Verband für alle Menschen als schönen Ort zu gestalten. Die sehen meine Lohnarbeit als Dienstleistung, die sie 24/7 abrufen und kritisieren können. Aber zum Glück ist das der geringe Teil.
Was ich in unserem Verband meistens erlebe, und wofür ich sehr dankbar bin, ist diese unglaubliche Wertschätzung unserer Mitglieder. Sie verstehen, wieso wir welche Veranstaltungen oder Themen setzen, sie wissen, dass sie mich und uns jederzeit erreichen können und dass ihnen mein und unser Herzblut ihnen gilt.
Und weißt Du was? Genau diese Menschen sind es, die mir auch mal ohne Anlass eine Nachricht schicken, weil sie wissen wollen, ob es mir gut geht. Sie geben mir das gute Gefühl, ein wertvoller Teil unserer tollen Bewegung zu sein. Und wenn wir uns ein bisschen mehr umeinander kümmern, geht’s uns allen besser.
NATURFREUNDIN: Eine der ganz großen Herausforderungen unserer Zeit ist das Thema „Vielfalt“. Sind wir ein vielfältiger Verband?
TALIN: Um Vielfalt zu erreichen, ist es wichtig, nicht nur solidarisch zu sein. Wir müssen auch Strukturen zu schaffen, die dafür sorgen, dass Menschen sich in unserem Verband wohlfühlen. Das bedeutet Verständnis und Bewußtsein dafür, dass es unzählige Lebensrealitäten und Identitäten gibt. Und die Anstrengung zu unternehmen, sie wirklich zu sehen und ihnen die Wertschätzung entgegenzubringen die sie verdienen.
Und natürlich bedeutet es auch, alte Strukturen aufzubrechen und Veränderungen voran zu treiben. Und: Ja, ist anstrengend und tut auch mal weh. Aber als Naturfreund*innen stehen wir doch seit jeher für eine gerechte Gesellschaft ein. Ich finde, das heißt, dass wir bei uns selbst anfangen sollten, unsere Privilegien und Strukturen zu reflektieren und gute Räume für alle Menschen zu schaffen.
Denn Menschen sind dann angekommen, wenn sie alle ihre Identitätspuzzleteile einfach sein können. Nicht weil alle dort gleich sind, sondern weil alle Unterschiedlichkeiten gesehen und wertgeschätzt werden.
NATURFREUNDIN: Liebe Talin, wir bedanken uns für das Gespräch.